Er ist ärgerlich – Sie hat Angst
Eine Zusammenfassung verschiedener Baby X-Studien
Vor kurzem bekam der Trailer einer BBC-Doku viel Aufmerksamkeit auf Facebook und Twitter, der im Zusammenschnitt mehrerer Szenen zeigte, dass Erwachsene mit einem Jungen ganz ander(e)s spielen, als mit einem Mädchen. Im Prinzip wurde für die Doku das Setting verschiedener Baby X Studien nachgestellt, wie sie in vielen Varianten seit den 1970ern veröffentlicht wurden. Baby X Experimente belegen, dass Erwachsene ein Kind sehr unterschiedlich behandeln, je nachdem, ob sie davon ausgehen, dass es sich dabei um ein Mädchen oder einen Jungen handelt.
Weil diese Studien sehr eindrücklich vorführen, wie unterschiedlich die Erwartungen an das eine oder andere Geschlecht sind, und dass Erwachsene dadurch sehr viel mehr Einfluss nehmen auf die Entwicklung eines Kindes, als sie sich vielleicht zugestehen möchten (und mehr, als Verfechter der Haltung „Jungs sind nun mal wilder und Mädchen fürsorglicher, das liegt in den Genen/Hormonen/der Steinzeit“ wahrhaben wollen), wollen wir hier die Ergebnisse und Quellen einiger zusammentragen.
Es lässt sich im Alltag zwar durchaus beobachten, dass sich das Spiel von Jungen und Mädchen voneinander unterscheidet, das kann aber unterschiedliche Ursachen haben:
- Es könnte ab Geburt Unterschiede geben: genetische Faktoren.
- Sie könnten unterschiedlich behandelt und dadurch beeinflusst worden sein.
- Sie könnten durch Beobachten und Imitieren ihrer Umwelt unterschiedliches Verhalten gelernt haben.
- Unser Blick könnte durch unsere Erwartung beeinflusst sein und wir sehen Unterschiede, wo gar keine oder kleinere sind.
Baby X – Studien legen den Fokus auf Punk 2. Und es geht dabei keinesfalls darum, den Einfluss von Genen und Hormonen auf unterschiedliches Verhalten abzustreiten, aber da die Mehrzahl der Erwachsenen davon ausgeht, Kinder „gleich“ zu behandeln, und auch meint, dass die Unterschiede im Kind (in seiner Natur) liegen, ist es interessant, die Aufmerksamkeit einmal auf den Aspekt zu lenken, den wir selbst jeden Tag aufs Neue mit beeinflussen könn(t)en.
Puppe, Beißring, Football
Seavey, Katz, and Zalk beobachteten 1975, dass Erwachsene verschiedenes Spielzeug auswählen, wenn sie mit einem 3 Monate alten Kind spielen, abhängig davon ob sie glaubten, sie hätten ein Mädchen oder einen Jungen vor sich. Das Kind im gelben Strampler wurde 1/3 der ProbandInnen als Mary, 1/3 als Johnny vorgestellt und 1/3 bekam keinen Hinweis aufs Geschlecht. Für Mary wurde häufiger die Puppe gewählt, für Johnny der Football. Wurden den Erwachsenen keine Informationen über das Geschlecht gegeben, wählten Männer häufiger das neutrale Spielzeug (Beißring) und berührten das Kind weniger, Frauen nutzen stereotyperes Spielzeug (Puppe bzw. Football) und suchten mehr Körperkontakt.
Ohne Informationen ob Mädchen oder Junge tippten 57% der Männer und 70% der Frauen auf einen Jungen (Es war ein Mädchen in allen Fällen), und begründeten ihre Vermutung z.B. mit der Kraft oder dem wenigen Haar.
Man kann über das Setting diskutieren und ob ein Ding wie ein Football für das Spiel mit einem 3 Monaten alten Baby eine echte Wahl darstellt, sich die Puppe nicht auf den ersten Blick eher anbietet. Aber in jedem Fall zeigt die Studie, dass Erwachsene sich in ihrem Verhalten vom Geschlecht des Babys beeinflussen lassen, Männer anders als Frauen.
> Baby X: The effect of gender labels on adult responses to infants
Diese Studie war die erste und seither folgten viele mehr, die unter dem Stichwort ‚Baby X‘ zusammengefasst werden können.
We act on what we think we see
1976 zeigen John und Sandra Condry Erwachsenen das Video eines 9 Monate alten Säuglings, der unterschiedlich auf einen Bär, eine Figur, die aus einer Kiste springt, auf eine Puppe und auf einen Summer („Buzzer“) reagiert. Der einen Hälfte wurde gesagt, das Kind sei ein Junge, der anderen, es sei ein Mädchen. Sie wurden aufgefordert, in jeder Situation, Freude, Ärger und Angst des Kindes einzustufen. Bei Bär und Summer war kein signifikanter Unterschied. Aber als es aufgeregt und mit Tränen auf die herausspringende Figur reagierte, wurde das häufiger als ‚ängstlich‘ interpretiert, wenn die Erwachsenen davon ausgingen, es handle sich um ein Mädchen. Die Vergleichsgruppe, die dachte, einen Jungen zu sehen, interpretierte dieselbe Reaktion als ‚ärgerlich‘.
> Sex Differences. A study of the Eye of the Beholder
Raueres Spiel – unterschiedliche Wortwahl
Mit Töchtern sprechen Väter offener über Gefühle, auch über Traurigkeit. Mit ihren Söhnen wählen sie rauere Spiele und nutzen eine leistungsbezogenere Sprache (z.B. Wörter wie „proud“, „win“ und „top“).
> Child gender influences paternal behavior, language, and brain function.
Beth and Adam
1984 beobachteten Carol Tavris und Carol Wade, dass selbst Mütter, die zuvor angegeben hatten, Mädchen und Jungen seien sich ähnlich, erst einen Spielzeug-Zug wählten,wenn ihnen das Kind als Adam vorgestellt wurde, und eine Puppe, wenn ihnen das Kind als Beth vorgestellt worden war.
> The longest war: sex differences in perspective
Unterschiedliche Erwartungen
> Maternal behavior and perceived sex of infant
Schmerzen bei Mädchen stufen Erwachsene als weniger schlimm ein
Da Jungen als stoischer eingestuft werden und Mädchen als emotionaler (hysterischer), nehmen Erwachsene laut einer psychologischen Studie in Yale den Schmerz von Mädchen weniger ernst und reagieren schneller, wenn ein Junge Schmerz zeigt und weint. „While all participants watched an identical video of an identical child exhibiting identical pain-display behaviors, the group who knew the child as “Samuel” said he was in more pain than the group who knew her as “Samantha.”
> Gender Bias in Pediatric Pain Assessement
Mehr grobmotorische Aktivitäten mit vermeintlichen Jungs
Caroline Smith und Lloyd, Barbara Llloyd fanden 1978 heraus, dass Söhne (zwischen 5 und 20 Monaten) von ihren Müttern mehr zu grobmotorischen Aktivitäten ermutigt werden als Töchter – sowohl in Worten als auch dadurch, dass sie selbst mehr auf grobmotirisches Verhalten reagieren, wenn es von einem Jungen kommt und weniger, wenn ein Mädchen es zeigt.
Maternal behaviour and perceived sex of infant. Revisited
Es gibt noch viele weitere Studien, die das unterschiedliche Verhalten Erwachsener gegenüber Jungen bzw. Mädchen untersuchen bzw. weitere Ergebnisse dazu liefern, auch wenn andere Fragen im Fokus liegen. 1989 haben Marilyn Stern und Katherine Hildebrandt Karraker für ihre Meta-Studie eine ganze Reihe davon analysiert: Sex stereotyping of infants: A review of gender labeling studies‚. Und auch in den Jahren danach gibt es Belege dafür, > dieser Artikel listet einige weitere Studien auf.
WDR-Doku
Für die WDR-Quarks-Sendung „Junge oder Mädchen. Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt“ vom 10. April 2018 stellte die Redaktion, analog zur BBC-Doku oben, ein Baby-X-Studien-Setting nach und kommt zu demselben Ergebnis:
Die Vorstellung ist sicher nicht ganz angenehem, dass man wohl selbst in der Situation auf der Krabbbeldecke ähnlich gehandelt hätte. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel geringer, wenn man sich dessen einmal bewusst wurde.
Unsere Vorträge und Seminare müssen zwar ohne Spielzeugteppich und Kleinkinder auskommen, aber mit vielen Beispielen und Bildern kommen wir in der gemeinsamen Diskussion zu ähnlichen Ergebnissen und tauschen uns aus über Wege aus der Rosa-Hellblau-Falle. Denn die greift ja nicht nur bei Spielzeug, sondern reicht in alle Bereiche des Alltags und beeinflusst auch Erwachsene in ihrem Tun untereinander.
>> Unconscious Bias
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