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Entschuldigung, aber ich möchte nicht vom HomeSchooling befreit werden!

Maskenwäsche

Langsam komme ich mir paranoid vor, wenn ich mal wieder unsere Mundschutze wasche und mir Sorgen mache, ob meine Kinder sich wohl auf dem Weg zur und in der Schule doch noch anstecken werden.

Ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. In Bremen sind jetzt wieder private Feiern mit 20 Personen im Innenraum erlaubt. Kitas mit maximal 20 Kindern in der Gruppe dagegen sind nicht flächendeckend wieder geöffnet. Und überall Bilder von Grillfesten, Partys, Strandtrubel. Aber wenn vier Jugendliche auf zwei Picknickdecken im Freien mit genug Abstand beisammen sitzen und Sandwich essen, dann kostet das pro Person € 200,- Strafe, sagen die Ordnungsbeamten auf Streife. Sechs Erwachsene, die sich eng eine Decke teilen, zahlen in dem Fall nichts. (Ist unserer Ältesten passiert, wir warten noch auf die Post, um zu widersprechen). Im Restaurant essen ist erlaubt, aber die Schulmensa hat geschlossen, und beim Bahnfahren ist Maske Pflicht, trotzdem setzen sich Erwachsene ohne Maske zu meinem Kind in den Vierersitz.

Was habe ich verpasst?

Nein, ich staune nicht mehr, ich bin zornig und völlig hilflos beim Lesen der aktuellen Entwicklungen. Was habe ich verpasst? Ist ein Impfstoff in Aussicht? Wurde das Virus überschätzt? Oder ist es nicht so, dass überall auf der Welt die Infektions- und Todeszahlen zunehmen? Ist das egal, weil das Virus an Landesgrenzen Halt macht?

Schulöffnung heißt für uns: mindestens eins von drei Kindern ist immer zuhause.

Ich sag’s mal frei raus: Ich bin für eine teilweise Kita- und Schulöffnung, ja. Aber ich bin gegen eine Präsenzpflicht für alle Schülerinnen und Schüler, die auch jene Eltern mit Zwang „entlastet“, die gar nicht entlastet werden wollen! Und vielleicht lässt sich das nachempfinden, wenn ich kurz erzähle, wie es bei uns aussieht:

Ein oder zwei Kinder sind immer zuhause. Das Jüngste hatte seit Mitte März keine Schule mehr. Bis zu den Sommerferien stehen jetzt drei vereinzelte Schultage an. Einmal werden Bücher abgegeben, beim letzten gibt ’s die Zeugnisse.

Das Mittlere hatte vier Wochen lang von 8 bis 11h Schule. Jetzt sind die Zentralen Abschlussklausuren geschrieben, bleiben noch zwei Termine vor den Ferien: Bücher und Zeugnisse.

Die Krönung erleben wir mit dem ältesten Kind:

Es hatte sieben Wochen keine Schule aber jede Menge Hausaufgaben, wurde überschüttet mit Arbeitsblättern und war von morgens bis nachts beschäftigt. So kann man die Freude auf die Schule auch erzwingen. Da geht das Kind jetzt seit zwei Wochen wieder hin, vier Tage die Woche. Bis zu 6 Stunden. Wir sind in NRW, es gibt keine Maskenpflicht, und die Schule schreibt das auch gleich mal so auf ihre Homepage und hält sich trotz Nachfragen dran.

Nachgefragt habe ich, weil ich die Geschichten aus dem Deutschunterricht so unfassbar finde: Der Lehrer gehört zu einer der Risikogruppen, er kommt nicht in die Schule. Tatsächlich unterrichtet er die Klasse digital von zuhause aus. Die SuS sitzen im Klassenzimmer, die Tische pro forma auseinandergeschoben. Das packt aber der Weitwinkel der Kamera nicht, manche SuS sind nicht im Bild. Was den Lehrer dazu bringt, alle aufzufordern, näher zusammenzurücken. Klar, Lüften sei ja sowieso wichtiger. Aber in Mathe wird nicht gelüftet, wegen der Baustelle vor dem Fenster, und Aerosole stehen auch nicht auf dem Lehrplan.

Ein noch besserer Vergleich als Parfum sei übrigens der Körpergeruch. Aber da gibt’s natürlich keinerlei Berührungspunkte zum Thema Luft in Klassenzimmern. ¯\_(ツ)_/¯

Worum es bei dieser Schulöffnung eigentlich geht, möchte ich gern wissen. Versprechen sich Pädagog*innen so ein besseres Lernen? Ein kontrollierteres? Bieten Videokonferenzen, Email-Austausch, Stundenplan-Apps und Telefonate nicht genug Möglichkeiten, um das Hausaufgaben Machen zu kontrollieren? Das kann es also nicht sein.

Mir fallen vier Gründe ein, die Schulen trotz Pandemie zu öffnen:

(Schreibt mir bitte die, die ich offenbar übersehe.)

  1. Der wichtigste aus meiner Sicht: Bildung. Eltern sind keine Lehrkräfte. Dem Lehrplan folgen, neue Themen erarbeiten, moderierte Klassengespräche, neue Methoden … wäre das alles ohne Lehrkräfte über Monate hinweg machbar, dann bräuchte es keine Schulen, und wir hätten noch ganz andere Probleme.
  2. Selber Grund, der aber eins weiter führt: Sozialen Ausgleich schaffen. Nicht alle Kinder haben zwei Elternteile, die sich das HomeSchooling zeitlich und nervenschonend aufteilen können. Nicht alle Eltern sind in der Situation, ihren Kindern mal eben ein eigenes Laptop zu kaufen, einzurichten, Zugänge anzulegen, Präsentations-, Team- und Chat-Software zu installieren und zu erklären! HomeSchooling vergrößert soziale Unterschiede und die Chancenungleichheit von Kindern.
  3. (Berufstätige) Eltern entlasten, denn HomeSchooling ist eine Herausforderung, nett formuliert. Abhängig von der digitalen Begleitung der Lehrkraft, vom Alter der Kinder, der Größe der Wohnung, dem Schulwissen der Eltern ist es schlicht eine Zumutung. Und es ist für viele Eltern in systemrelevanten Berufen oder im HomeOffice deshalb einfach nicht machbar. 
  4. Genauso wichtig: Sozialkontakte ermöglichen. Der einzige Grund, den ich gelten lasse in unserem Fall. Wobei: Es gäbe dafür bessere Alternativen.

Mein Job ist nicht systemrelevant. Sascha und ich arbeiten freiberuflich, schreiben Bücher und Radiosendungen, und die entstehen wie bisher auch am Schreibtisch in unserem Büro, das in dem Haus liegt, in dem wir auch wohnen. All unsere Vortragstermine, Lesungen, Workshops wurden abgesagt, wir sind also noch mehr zuhause als so schon. Das trifft sich gut, denn unsere Kinder brauchen Hilfe beim HomeSchooling, organisieren sich aber auch immer wieder gut selbst. Ja, sie haben mehr Fragen als sonst, müssen sich selbst neue Themen erarbeiten, mal besser, mal schlechter digital begleitet. Ja, es ist nicht toll, sich über die eigene berufliche Zukunft Sorgen zu machen, im Büro zu versacken und die Kinder in ihren Zimmern zu lange sich selbst zu überlassen. Klar verliere ich die Geduld bei französischen Aufsätzen über globale Werbestrategien, Ionen und Oxidationsabläufen, englischen Erörterungen und Differenzialgleichungen, die ich in der Schule schon nicht verstanden habe.

Wie wäre es mit Wahlfreiheit?

Trotzdem greift in unserem Fall nur das letzte der vier Argumente für Schulöffnung. Und auch das lässt sich bisher vernachlässigen, wir sind im Moment noch in keiner unerträglichen Situation, die der Kinder wegen dringend beendet werden müsste. Damit haben wir Glück, wir sind privilegiert, das ist mir bewusst. Aber darf ich damit nicht dazu beitragen, dass die Last besser verteilt wird und Ungleichheiten nicht noch vergrößert werden? Was passiert mit Kindern, die wegen Quarantäne oder Familienmitgliedern aus Risikogruppen nicht vor Ort unterrichtet werden können? Warum setzen die Länder nicht auf Freiwilligkeit und Vernunft? An die wird schließlich auch beim Feiern und beim Saunabesuch appelliert, aber Eltern ist sie nicht zuzutrauen? Wenn ein Teil der Kinder phasenweise zuhause bleibt, könnten andere in kleineren Gruppen lernen. Die Klassen wären leerer, das Risiko, sich in der Schule anzustecken, geringer. Und Lehrer*innen hätten mehr Zeit und Kraft, sich um die Kinder zu kümmern, denen die Unterstützung von zuhause fehlt.

Aber Freiwilligkeit ist nicht dran, in Deutschland ist Schulpflicht – einmal mehr finde ich den Begriff falsch, sollte es doch viel mehr um ein Recht auf Schule gehen. Aber da habe ich offenbar was falsch verstanden:

In Deutschland gibt es keine Bildungspflicht, sondern eine Schulpflicht, die durch Präsenz zu erfüllen ist.“

Damit drängt sich ein fünfter Grund für die Schulöffnung auf:

Wirtschaft ist wichtiger als Care. Umsatz ist wichtiger als Gesundheit.

Dieses Denken lag politischen Entscheidungen auch schon vor der Pandemie zugrunde, die Care-Krise wurde nicht durch das Sars-CoV-2-Virus ausgelöst. Auch ohne Pandemie sind diejenigen überlastet und unterbezahlt, die sich um Kinder und um Pflegebedürftige kümmern, und trotzdem spielt die berufliche und private Care-Arbeit in den aktuellen Entscheidungsgremien keine zentrale Rolle. Der „Autogipfel“ im Kanzleramt ist wohl erstmal verschoben, aber wird es dafür einen „Care-Gipfel“ geben? Bei Gesprächen über die Kita- und Schulöffnung stehen nicht Kinder im Mittelpunkt, sondern die Entlastung der Erwerbstätigen, weil Steuerzahler*innen. Und genau deshalb mache ich mir Sorgen.

Mir ist nicht nach Tanzen.

Was genau habe ich persönlich davon, dass sich aktuell nur wenige anstecken, wenn es mich oder mein Kind nächste Woche erwischt? Was bringen mir die Gesamtzahlen, wenn ich nächste Woche ins Krankenhaus muss, weil ich einen schweren Verlauf habe? Flatten the Curve heißt doch nur: Je später du dich infizierst, umso besser, weil es mehr Wissen für den Umgang mit der Krankheit gibt und du davon ausgehen kannst, gut versorgt zu werden, anstatt in einem überlasteten Gesundheitssystem hoffen zu müssen, dass genug Zeit, Personal und Medizin für dich übrig bleiben.

Flatten the Curve heißt nicht: Maske ab, Entwarnung, ist ja doch gar nicht so schlimm.

Es IST schlimm, denn wir wissen zu wenig darüber, was das Virus im Körper anrichtet. Der Virologe Peter Piot, der 1976 das Ebola Virus mitentdeckt hatte und seit über 40 Jahren weltweit gegen Viren kämpft, ist ein Experte für Infektionen. Er ist Ende März an Covid19 erkrankt und schreibt hier über die Nebenwirkungen: „Eine unterschätzte Fähigkeit des Virus: Es kann wahrscheinlich alle Organe in unserem Körper befallen.

Und Christian Drosten sagt: „Geöffnete Schulen bleiben ein Risiko.“ (Coronavirus-Update #38 – Podcast)

Flatten the Curve ist ein Ziel für die Bundespolitik – aber für jede einzelne Person bleibt Covid19 eine Krankheit mit unerforschtem Risiko. Und während ich mich frage, wie ich damit klarkommen würde, falls eins meiner Kinder krank wird, und ich es 14 Tage oder womöglich länger im Krankenhaus alleine lassen muss, bekomme ich eine Mail der Tanzschule, Betreff „Wir sind zurück!“ Die Tanzkurse fangen wieder an und ich staune schon wieder, haben mich doch die Regeln der Schwimmbäder schon überfordert: „Halten Sie in der Sauna Abstand zu Ihren Sitznachbarn (mindestens eine Saunatuchbreite)“.

Mir ist nicht nach Tanzen. Auch nicht mit 1,5 Meter Abstand zum nächsten Paar. Kann man machen, aber ich überlege, mein Tanzkurs-Abo vorerst zu kündigen, weil

Better safe than sorry.

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